Zweidrittel der Wähler sprachen sich für einen EU-Beitritt aus. Doch dieses Referendum hat einen großen Makel. Nur 43.68% der Wahlberechtigten gingen überhaupt zur Abstimmung, dass heißt weniger als 30 Prozent der Wahlberechtigten stimmten zu. Das Ergebnis ist demokratisch zweifelhaft auch wenn es legal ist.
Die kroatische Verfassung von 1990 sah im Artikel 87 vor, dass bei einer elementare Frage für die Republik das Volk konsultiert werden kann. Das EU-Referendum ist erst die zweite Volksabstimmung in der Geschichte des Landes. 1991 hat das Volk entscheiden sich aus dem Staatenbund Jugoslawien zu lösen. Dies war noch eine echte Volksabstimmung. Im Artikel 87 stand damals noch
Beim Referendum entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen unter der Bedingung, daß am Referendum die Mehrheit aller Wahlberechtigten der Republik teilgenommen hat.Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zur EU musste die Verfassung in verschiedenen Artikeln angepasst werden, doch die Parlamentarier nahmen diese Gelegenheit wahr, um auch Artikel 87 zu verändern
(Kroatische Verfassung, Artikel 87, Absatz 3 in der Fassung vom 22. Dezember 1990)
Beim Referendum entscheidet die Mehrheit der dem Referendum beigetretenen Wählerstimmen.Die niedrige Wahlbeteiligung kann nicht mit Wahlmüdigkeit erklärt werden. Sowohl Regierung und Opposition als auch viele Medien und die in Kroatien mächtige katholische Kirche warben für ein Ja im Referendum.
(Kroatische Verfassung, Artikel 87, Absatz 4 in der Fassung vom 16. Juni 2010)
Es gibt verschiedene Erklärungen für die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung, die diesem Referendum die demokratische Legitimität nimmt.
Radikale Nationalisten warben für ein Nein oder eine Enthaltung und dokumentieren damit, dass sie die Verfassungsänderung verschlafen hatten. Staats- und Regierungsmehrheit feierten das Ergebnis und verwiesen wenn überhaupt nur darauf, dass die Beteiligung bei Wahlen in Kroatien auch sehr niedrig sei.
Das EU-Gegner nun eine Wiederholung der Abstimmung verlangen, erscheint moralisch berechtigt, hat aber keine Chance.
In einen Kommentar für den österreichischen Standard schrieb Adelheid Wölfl
Man kann sogar annehmen, dass viele Kroaten am Sonntag nicht zur Abstimmung gingen, weil sie es einfach nicht für notwendig hielten, wo sie sich doch ohnehin im Zentrum Europas wähnen. Für die Kroaten ist der Beitritt zur EU ja nicht der Zugang zum langersehnten Paradies, wie dies für viele Bulgaren oder Rumänen der Fall war, sondern vielmehr die größte Selbstverständlichkeit der Welt.
(…)
Die Ablehnung sitzt tief. Institutionen, europäischen wie nationalen, wird grundsätzlich misstraut, (...)
(Quelle: Der Standard, 24. Januar 2012)
Bei der Lektüre verschiedener Artikel deutscher Zeitungen fiel auf, dass sowohl Welt, FAZ, Zeit und Spiegel das Geschehen in Kroatien vor allem aus der Sicht der dpa darstellen.
Scheinbar hatte nur die taz mit Erich Rathfelder einen Journalisten vor Ort. Traurige deutsche Medienlandschaft. Zu einer Pressekonferenz von Karl Theodor v.u.z.G. in Brüssel erscheinen Dutzende deutsche Medienteams, während eine bedeutende Abstimmung in Europa nur wenig direkte Aufmerksamkeit erhält.
Auf der kroatischen Webseite der Wirtschaftszeitung (Google Übersetzer sei Dank) Dnevnik aus Zagreb wurde darauf verwiesen, dass Kroatien einen Rekord aufgestellt hat, einen negativen Rekord in der Wahlbeteiligung. Auch andere Beitrittsstaaten befragten das Volk und hier waren Ungarn und die Slowakei bisher mit 45,6% Wahlbeteiligung die blamablen Rekordhalter. Alle andere Staaten hatten mehr als 50% Wahlbeteiligung und auf Malta nahmen sogar 90,8% (ohne Wahlpflicht!) am Referendum teil.
Dnevnik verweist auf den Nachbarn Slowenien, wo 89,6% für einen Beitritt stimmten, aber dies mit einer Wahlbeteiligung von 60% legitimiert wurde.
Die Wahlbeteiligung in Kroatien war nicht nur niedrig, sondern es gab extreme Unterschiede im Abstimmungsverhalten. Im Bezirk Međimurje an der slowenisch-ungarischen Grenzen stimmten 75,7% der Wähler für einen Beitritt. Im Bezirk Dubrovnik-Neretva stimmten nur 56,9% für einen Beitritt, aber es gab auch Wahllokale in denen 86,7% gegen einen EU-Beitritt waren.
In der Hauptstadt Zagreb waren 67,9 Prozent der Wähler für die Europäischen Union.
Unter den Kroaten in der Diaspora (vor allem in Bosnien Herzegowina) gab es eine Zustimmung von 83,2% der Stimmen. (Quelle: Dnevnik)
Der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso und der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy phantasieren in ihrem Statement von einem „popular mandate“.
Ähnlich optimistisch sieht der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz „ein positives Signal und eine Bestärkung für ganz Südosteuropa“
Erich Rathfelder verwies in der taz darauf, dass für alle Befürworter des Beitritts ein Nachgeschmack bleibt.
EU-Politik und EU-Programme werden in der Zukunft in Kroatien mit dem Makel leben müssen, dass 70 Prozent der Wahlberechtigten nicht für einen EU-Beitritt gestimmt haben. Das ist ein schlechtes Vorzeichen für den EU-Beitritt.
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Persönlich kann ich als Radikaldemokrat Ergebnisse von Abstimmungen mit weniger als 50 Prozent Wahlbeteiligung nicht ernst nehmen.
1 Kommentar:
Mich freut vor allem und ohne weiteres, dass das kroatische Volk entschieden hat, unserer grossen Familie beizutreten. Sie ist eine Familie mit Problemen - Geschwister streiten sich oft zu sehr, jeder möchte immer mehr die Familie ausnutzen zum eigenen Gunsten, und Papa und Mama - die Institutionen - haben oft kein Recht und lassen sich zu sehr von manchen Söhnen und Töchtern - Frankreich und Deutschland - beeinflussen, sowie von ihren Freunden - die grossen Unternehmenslobbies. Doch Halten wir noch alle zusammen, und trotz allem Pessimismus, der heute in der EU herrscht, wird das eine grosse Weile noch behalten werden. Wir haben einen Weltkrieg hinter uns gelassen, dasselbe werden wir mit der Wirtschaftskrise tun. Zynische Kommentare über Kroatien habe ich letzlich gehört wie ,,Kommt gerne bei uns zu Hause herein, hier passt noch einer in diesem brennenden Haus". Vielleicht haben viele Kroaten auch verstanden, dass der Zeitpunkt nicht gerade perfekt ist, an der Europäischen Integration teilzunehmen, wenn diese angeklagt wird, gescheitert zu haben.
Dass so wenige gewählt haben, bedeutet nicht unbedingt, dass Kroatien sich nicht für die EU interessiert. Es kann auch der Fall sein, dass keiner seine Zeit mit einem Referendum verschwenden wollte, dessen Ergebnis seit dem Anfang selbstverständlich war: kein Kroate kann ignorieren, dass sein Nachbar, der Slowener, riesige Vorteile von der EU bekommen hat. Haben wir doch nicht alle diese Vorteile auch gekannt?
Filipe Bastos
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