Donnerstag, 28. Dezember 2006

Filmkritik Populärmusik aus Vitulla

Populärmusik aus Vittula (Schweden 2004)
Regie: Reza Bagher

Ohne großes Vorwissen ging es ins Kino. Hatte gelesen, dass dies die Verfilmung eines in Schweden sehr erfolgreichen Romans von Mikael Niemi ist, der sich bisher auch mehr als 100.000 Mal in der deutscher Übersetzung verkauft hat.

Eine Geschichte aus der Peripherie, aus der ländlichen Peripherie um genauer zu sein oder wie es bei uns so schön heißt, vom Arsch der Welt. Eine weit gestreute Ortschaft nördlich des Polarkreises, wo es im Dorf die richtigen und die falschen Straßen, mit den sozial verachteten Familien gibt. Zwei Jungen werden von ihrem Einschulungsalter bis zur Volljährigkeit begleitet.

Es ist eine Welt, in der bereits die nächste Stadt in einer unfassbaren Ferne liegt und wo der Vater in der Familie die letzte Instanz ist. Mit Gewalt wird die Macht in der Familie immer wieder bestätigt. Die Außenwelt ist fremd und die Eigenwelt wird in der Schule als Fremdkörper in Schweden dargestellt. Eine Region, in der Schwedisch mit Akzent gesprochen wird. Die Kenntnis von Finnisch oder der Sprache der Samen ist wichtiger und bekannter als Englisch, Französisch oder Esperanto, wie sich beim Besuch eines Priesters aus dem Kongo zeigt.

Die Geschichte wird als Rückblende von einem Erwachsenen erzählt. Wie für eine Erinnerung typisch, sind die Szenen exemplarisch und es gibt große inhaltliche und zeitliche Sprünge. Der Film ist entsetzlich realistisch.

Es sind eigentlich zwei Geschichten; zum einen der Entwicklungsroman der beiden Protagonisten und die Geschichte des Einzugs der Moderne in Vittula. Moderne beinhaltet verbesserte Verkehrsanbindung ("... die Straße führt bis nach China ...") und die namensgebende Ankunft von internationaler Popmusik in Form der Beatles Single Rock’n Roll Music. Dies führt zu den bekannten Ablehnungen von jeglichen Veränderungen durch die Eltern.

Popmusik ist nicht nur eine Kulturrevolution für die Eltern, die ihre Autorität fundamental angegriffen sahen, sondern auch eine schwindelerregende Erfahrung für die Zuhörenden. An diesem Ort, an dem die strenge Kirchenzucht noch existiert, auch wenn dies nur als alt-testamentarisches Patriarchat gelebt wird, kommt ein junger Musiklehrer aus der Stadt, der völlig neue Erfahrungen vermittelt.

Hand gemachte Musik, Gründung einer Band und schließlich der erste Auftritt in der Schule verändern alles. Die beiden Jungen werden begleitet bei ihren ersten Erfahrungen mit Alkohol, sexuellen Reizen, dem ersten Kuss und schließlich dem ersten Mal. Das kollektive Saufen ist zunächst noch amüsant, wird durch die Wiederholungen aber immer drastischer. Bewusstseinserweiternde Drogen werden als Medizin genommen und führen zu wirren Träumen.

Die erste echte Liebe sprengt die Band, die Freundschaft und mit dem seit der Kindheit angekündigten doch nun sehr plötzlichem Verlassen von Vittula von einem der Protagonisten endet die eigentliche Geschichte.

Die Musik im Film und zum Film ist wunderbar. So viel Energie wie dort übertragen wird, wünsche ich mir in jedem Konzert. Born To Be Wild als Instrumentalversion ist herausragend.

Noch eine letzte Anmerkung zum Film (hier geht es zur offiziellen deutschen Website). Die Gewalt eines Vaters ist ein wiederkehrendes Thema und im Gespräch danach kam mein Ekel vor diesem neuen Realismus hoch. Es ist kein filmischer Fortschritt, wenn nun schon seit mehreren Jahren gezeigt wird, wie Kugeln eintreffen, Messer schneiden, Fäuste auftreffen. Der Regisseur zeigt nur wenig unmittelbare Gewalt, aber die Permanenz und Wiederholung zeugt mehr vom Zwang einer psychologischen Aufarbeitung von Kindheitstraumata als von einer Weiterentwicklung der Geschichte.

Es ist egal, ob man in Vittula (die Bedeutung des Ortsnamen wird unten erklärt), Brauel (diesem Dorf nördlich von Zeven, dass meiner Seite den Namen gegeben hat), Wehldorf oder einem anderen Dorf einen wesentlichen Teil seiner Kindheit und Jugend verlebt hat. Diese abgeschlossenen Welten mit ihren jährlichen Höhepunkten in ritualisierten Treffen (Schützenverein, Freiwillige Feuerwehr, Sportverein) und familiären Jubiläen, die für viele nur als ein guter Grund zum Besaufen angesehen werden, sind ein Synonym für Stillstand, der von den Beteiligten als Tradition bezeichnet wird.

Mannbarkeitsrituale und vor allem immer wieder Saufen bis zum Umfallen finden sich sowohl im Film (besonders lustig das finnische Prosit „kippis“ mit anschließenden synchronem Kippen von großen Schnapsgläsern; Martin hatte diesen Spruch in Wolfenbüttel eingeführt) als auch in der ländlichen Realität Niedersachsens in den späten 1970er Jahren. Die seit den 60er Jahren zugezogenen Vorstädter sind davon ausgenommen, die leben in ihrer Welt. Es ist dieser Kreis von Menschen gemeint, die sich in Pfeifenraucher-, Gemütlichkeits-, Kegel- und anderen Vereinen treffen und gleichzeitig in Boßel-Gruppen oder als Zirkel von Grillenden, Kranzbindenden und anderen Aktivitäten jedes Wochenende treffen und sich ritualisiert betrinken. Der Film zeigt in einer Szene eindringlich die Gier vor dem ersten Schluck und das Bedürfnis so schnell wie möglich, einen Pegel zu erreichen. Was da auf der Leinwand zu sehen ist, kann mit eigener Erfahrungen (Jugendgruppe der Freiwilligen Feuerwehr) aus dem ländlichen Raum wenn auch nicht so extrem nacherzählt werden.

Der Film motivierte mich im Netz nach der Auftritt von Brauel zu suchen und ihn zu finden. Die Moderne ist auch dort angekommen, aber Freizeit ist weiterhin eng mit Alkohol verbunden. In einer „Fun“-Seite der Freiwilligen Feuerwehr findet sich ein Quiz und es ist symptomatisch, dass zwei von zehn Fragen beliebte Alkoholmarken im Dorf abfragen. Das Gästebuch zeugt auch von trunkenen Einträgen oder Saufkumpanen.

Populärmusik aus Vittula bekommt von mir sechs von zehn möglichen Punkten meiner Filmbewertungsskala.

- - - - - - Nachtrag aus Espoo, Finnland - - - -
Vittula ist ein Ortsteil von Pajala im Norden von Schweden. Da hier die finnische Minderheit lebt, hat der Ort auch einen finnischen Namen. Vittula heißt übersetzt "Ort der weiblichen Geschlechtsteile" in Referenz zur deutlich höheren Geburtenrate gegenüber den schwedischen Ortsteilen. Der Ausdruck ist noch viel obszöner, im Sinne von pussy (englisch) oder Möse, Fotze (deutsch).
- - - - - - Nachtrag vom März 2013 - - - - -
Nun gibt es auch einen Beitrag zu meiner Einführung in harte Getränke.


1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…
Hallo,

bin ein ehemaliger Braueler, und ganz und gar nicht sagen das es ein "hinterwäldler" Dorf oder so ist.
Leider gibt´s die Mybrauel-seite nicht die übrigens nicht von der Feuerwehr sondern von einen Teil der Jugendlichen gemacht wurde, leider gibts Im Moment keine Seite von Brauel im WWw
31. März 2008 18:47

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ich als ebenfalls gebürtiger Braueler kann Ihr BIld garnicht teilen,

es stimmt zwar das auf Festen alkohol getrunken wird , dies ist aber nicht der Hauptgrund dieser Treffen, vielmehr soll das Dorf und die benachbarten Orte zusammen kommen, man soll sich unterhalten und kennenlernen. Zudem ist z.B. der Schützenverein neben seiner Pflege der Tradition von Werten und nicht dem Trinken von Alkohol und dem Sportlichen Angebot wichtig für die förderung der Kinder und Jugendlichen im Verein und komme Sie mir Jetzt nicht mit irgendwelchen Schauermärchen von Amokläufen, dies ist ein ganz anderes Thema.
Auch wenn auf der Seite www.my-Brauel.de Bilder von Alokoholtrinkenden Personen sind zeugen die Bilder eher von Spass am Leben , denn an Langweiligikeit und immer Wiederholendem.