Sonntag, 28. Januar 2007

America the Beautiful

Aus dem Reisetagebuch vom 3. Februar 2005

Nach einem späten Frühstück fuhren wir in die Innenstadt von Sarasota zu einem der Kinos. Meine Gastgeberin sah sich mit ihrer Tochter "Phantom of the Opera" und ich mir Scorseses "Aviator" an. Leonardo di Caprio zeigt, dass er einer der großer Schauspieler ist und der Regisseur Martin Scorsese hat einige sehr interessante Stilelemente verwendet. Zum Beispiel die Farben in diesem Film: Da der porträtierte Howard Hughes selbst Filmemacher war und stets die modernste Technik verwendete, versucht Scorsese den Stand der jeweiligen Technik wiederzugeben. In der Szene, in der Howard Hughes mit Katharine Hepburn auf den Familiensitz des Hepburn-Clan fährt, ist in wunderbarem Technicolor gedreht. Diese Kunstfarben der Studiofilme der 30-50er Jahre. Ich meine mich noch an den Tod von Howard Hughes zu erinnern und wie damals bekannt wurde, wie abgeschieden er lebte und in seinen letzten Lebensjahren seiner Umwelt vollständig „verrückt“ erschien. Die Entwicklung dieser „Verrücktheit“ wird im Film sehr intensiv gezeigt. Künstlerisches Kino auf hohem Niveau. Ein Zuschauender leidet mit, leidet mit dem Verrücktwerdenden, der Angst hat verrückt zu werden und leidet mit seinen Freunden, die das erleben müssen.
Howard Hughes hatte OCD (obsessive-compulsive disorder), eine Angstpsychose, die Folge der Sozialisation sein kann. Dies wird so auch im Film dargestellt.
Es war dies für mich eine ungewöhnliche Uhrzeit, um ins Kino zu gehen. Ich wurde glücklicherweise vorher gewarnt, dass ich auf jeden Fall ein Sweatshirt mitnehmen sollte, da die Kinos sehr stark gekühlt werden.

Abends gab es US Culture (ein Oxymoron?) und ich fühlte mich wie ein Ethnograph - bitte den Unterschied beachten, nicht wie ein Ethnologe - und wieder ging es um laufende Bilder. Kino entwickelte sich bereits früh zu einem großen Geschäft mit möglichst vielen zahlenden Gästen in immer größer werdenden Räumen. Hier in Hannover gibt es mehrmals im Jahr Veranstaltungen mit Schwarz-Weiß-Stummfilmen im kommunalen Kino im Künstlerhaus, die mit Piano manchmal sogar mit 2-3 Musikern vorgeführt werden.
In den USA gab es frühzeitig Großkinos für 1.000 und mehr Besucher und da wäre ein Piano akustisch verloren gegangen. Die Firma Wurlitzer hat damals ein Instrument entwickelt, dass selbst sehr große Säle beschallen kann. Der Name deutet es bereits an, es sind Auswanderer (aus Sachsen), die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfolgreich im Musikinstrumentegeschäft tätig sind. Die Wurlitzer-Orgel erinnerte mich zunächst an die transportable Orgeln, die als LKW-Anhänger früher auf Jahrmärkten oder vor großen Bahnhöfen standen. Ich habe solche Großorgeln mit Schlagzeug und anderen Perkussionsinstrumenten vor den Bahnhöfen von Bremen und Oldenburg und auf dem Jahrmarkt von Deventer gesehen. Doch die Wurlitzer-Orgel in dem so genannten Restaurant Roaring Twenties (Werbespruch: WHERE EATING IS A SOUND EXPERIENCE!) in Ellenton war viel größer. Mehrere tausend Pfeifen und andere Blasinstrumente füllten die gesamte Bühnenseite eines Saales für etwa 500 Personen und an der hohen Decke hingen diverse weitere Gruppen von Blass- und Perkussionsinstrumenten, die durch Rohre mit dem zentralen System der Blasebälge verbunden waren. Alles wurde von einer Person gesteuert, die eine Vielzahl von Klavier-Tastaturen vor sich hatte und mit verschiedenen Pedalen weitere Effekte erzeugen konnte. Das Restaurant bietet American Pizza (sprich: Pietza) und andere einfache Gerichte und ein Alleinunterhalter spielt jeweils 45 Minuten Wunschkonzert gefolgt von einer 15minütigen Pause.
Die Musik stufe ich persönlich als Grausamkeit ein. Volksmusik! Wer den Film Mars Attack kennt, weiß das dies eine tödliche Folter sein kann. Das Publikum im Restaurant (?) war deutlich über 50 Jahre alt und die Nummernschilder vor dem Restaurant zeigten viele Autos mit Nummernschildern außerhalb von Florida und es waren sogar verschiedene Wagen mit Zulassungen in Kanada zu sehen. Die Wurlitzer-Orgel ist für ältere Menschen eine Attraktion und es werden Lieder gespielt, wo das Publikum mitsingen kann. Es gab sogar „American – The Beautiful“ und die Mehrzahl stand auf, Hand aufs Herz und sang lauthals mit.

Hier sah ich sehr viele der extrem übergewichtigen Eingeborenen diesen Landes. Was mögen das für Body-Mass-Index-Werte sein. Es ist nicht faszinierend, diesen Menschen zuzusehen, sondern nur erschreckend. Das akustische Grausen dauerte für mich über zwei Stunden. Nach einer Stunde meinte ich wirklich jedes Detail in diesem Saal gesehen zu haben und trotz sehr langsamen Essens, alles verzehrt. Wegen des Krachs (neben den Getöse der Wurlitzer meine ich hiermit die sehr lauten Gespräche von mehreren Hundert Personen) und da mein Gastgeber mehr oder minder die Musik beachtete, hatte ich noch nicht einmal einen Gesprächspartner. Meine Gastgeberin genoss jede Minute und ich formulierte bereits im Stillen eine nette Entschuldigung für einen Abendspaziergang vor dem Restaurant, damit ich vorzeitig den Saal verlassen kann.
Sie merkte natürlich, dass ich nicht vor Freunde strahle. Sie wirkte deshalb ein wenig frustriert und formulierte lang und breit wie begeistert eine Besucherin aus Hannover war, als Sie ihr diese und andere Attraktionen zeigte. Ich genieße viele Augenblicke, aber ich bin nicht ständig am Betonen „I love it“ – „How wonderful“.
Ein weiteres Mal wollte Sie mich überreden, dass wenn wir gemeinsam an die Ostküste fahren, dass wir dann auch Disney World in Orlando besuchen. Sie warf mir Rechthaberei vor, weil ich diesen Park grundsätzlich ablehne, ohne je dort gewesen zu sein. Dieser Vergnügungspark hätte so viele Facetten, dass es dort auch etwas geben würde, dass mich interessiert. Wieder und wieder erklärte ich, dass meine Erlebnisse mit Freizeitparks mir nicht in so guter Erinnerung sind. Aber Disney sei doch etwas Anderes, und schon waren wir wieder in einer Wiederholungsschleife und es wurden weitere Worte, Zeit und kostbarer Sauerstoff verschwendet. Warum können einige Menschen nicht akzeptieren, dass nicht alles, was die Mehrheit gut findet, auch mir gefällt?


Nachtrag.
Das Restaurant hat im Juni 2010 mitgeteilt, dass es seinen Betrieb einstellt. Die wirtschaftliche Krise in den USA führte zu einen Einbruch beim Umsatz. Siehe hierzu den Artikel in der Herald Tribune , dort ist auch auf einem Foto die große Orgel zu sehen.

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