Mittwoch, 3. Januar 2007

P.T. Anderson 1999 Magnolia

Magnolia (USA 1999, 180 Minuten)
Regie: Paul Thomas Anderson

Der Skandal trächtige Film "Boogie Nights" über die US-Pornoindustrie aus der Perspektive eines erfolgreichen Darstellers machte P.T. Anderson bekannt. Mit diesem dritten Spielfilm legte er bereits ein Meisterwerk vor. Ich möchte begründen warum dies einer der wenigen Filme ist, die ich als sehr gut bis herausragend bewerte. Dies entspricht 9-10 von 10 möglichen Punkten meiner Werteskala.

Die Grundthese des Filmes wird in einer Einleitung vorgestellt: Es gibt keine Zufälle! Selbst noch so ungewöhnliche Ereignisse und Verbindungen zu anderen Ereignissen lassen sich rational erklären.
Erzählt wird aus dem Leben eines Tages von neun Personen im Stadtteil Hollywood von Los Angeles. Die Ereignisse von einem Tag zum nächsten führen zu Begegnungen der neun Personen und derer Handlungen sind Teil eines Gewebes, dass als "Web of Life" beschrieben werden kann. Es geht um Krankheit und Tod, doch vor allem um die großen moralischen Kategorien von Reue, Vergebung und Erlösung.
Um die Charaktere und ihren Aktivitäten besser zu verstehen, sollten die neun Fäden und ihre Akteure vorgestellt werden.
  • A) Der unter großen Schmerzen sterbende Fernsehproduzent Big Earl Partridge (gespielt von Jason Robards), der noch einmal seinen Sohn (D) sehen möchte;

  • B) Die Ehefrau Linda Partridge (Julianne Moore), die im Sterben ihres viel älteren Ehemanns (A) die Verlogenheit ihres bisherigen Lebens realisiert;

  • C) Der Krankenpfleger Phil Parma (Philip Seymour Hoffman), der Earl Partridge (A) am Sterbebett betreut und seinen letzten Wunsch erfährt.

  • D) Der zynische Psychoprediger Frank T. J. Mackey (Tom Cruise), der ein aggressives Machotum in Video und Workshops propagiert;

  • E) Die drogensüchtige Claudia Wilson (Melora Waters), die durch Prostitution das Geld für Kokain anschafft;

  • F) Der tief gläubige Polizist Jim Kurring (John C. Reilly), der nur einmal am Tag etwas Gutes tun oder etwas Übles verhindert möchte;

  • G) Der ältere Quizmaster Jimmy Gator (Philip Backer Hall), der mit seiner Sendung, die von Partridge (A) vor über 30 Jahren aufgebaut wurde, berühmt wurde und nun sein persönliches Ende vor Augen hat.

  • H) Der hoch intelligente Stanley Spector (Jeremy Blackham), der von seinen Vater zu immer neuen Höchstleistungen in der Fernsehquizshow (G) getrieben wird

  • I) Der erfolglose Verkäufer Quiz Kid Donnie Smith (William H. Macy), der als Kind eine Fernsehberühmtheit in der Quizshow (G) war.

Viele wollen Liebe geben. Es gibt eine beständige Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die oftmals nur als Sex zu haben ist.

Die Verknüpfungen sind vielfältig. Frank Mackey ist der Sohn von Earl Partridge und hat mit ihm gebrochen, nachdem er die Familie verlassen hatte, als die Mutter an Krebs erkrankte und qualvoll verstarb. Er wird durch eine recherchierende Journalistin und den Krankenpfleger, der den Wunsch nach einer letzten Begegnung zwischen Vater und Sohn erfüllen hilft, an seine Familiengeschichte erinnert.
Die drogensüchtige Claudia ist die Tochter des Quizmasters und hat den Kontakt zu den Eltern abgebrochen. Der Quizmaster erfährt, dass er todkrank ist und möchte sich mit seiner Tochter vertragen. Der Polizist wird wegen Ruhestörung zu Claudia gerufen und verliebt sich in sie beim ersten Anblick. Diese Verliebtheit entsteht auch bei Claudia, die aber meint, dass sie bereits verloren ist und deshalb mit keinen anständigen Menschen mehr zusammen sein kann.
Stanley saugt Wissen wie ein Staubsauger und ist der Star der Quizsendung. Donnie Smith war so ein Kinderstar und die Parallelen sind offensichtlich. Wissenhunger und Eltern, die das gewonnene Geld verprassen. Stanley begreift in der Show, dass seine Interessen und Bedürfnisse (Toilette) nicht zählen. Er ist der Star, weil er für die Zuschauer ein Freak ist mit einem unvorstellbaren Gesamtwissen.
Die Quizshow verknüpft alle Personen, da sie entweder beteiligt sind oder alleine oder gemeinsam sich die Show im Fernsehen anschauen.

Hiermit sind die Konflikte bereits angedeutet. Die Geschichte wird streng in Kapitel erzählt, deren Überschriften aus dem lokalen Wetterbericht bestehen. Alle wollen sich den anderen gegenüber erklären und wieder etwas gut machen. Im bisherigen Leben wurden solide Mauern des Selbstschutzes aufgebaut, dass der Wunsch nach Reue und Vergebung eine knisternde Spannung erzeugt. Als alle Konflikte aufgebaut sind und nur noch auf ein reinigendes Gewitter gewartet wird, setzt ein Lied von Aimee Mann ein: Wise Up, dessen Lyrik von allen neun Personen gesungen wird.
Claudia Wilson Gator:
It's not
What you thought
When you first began it
You got
What you want
Now you can hardly stand it though
By now you know
It's not going to stop


Jim Kurring:
It's not going to stop
It's not going to stop
'Til you wise up


Jimmy Gator:
You're sure
There's a cure
And you have finally found it


Quiz Kid Donnie Smith:
You think
One drink
Will shrink you 'til you're underground
And living down
But it's not going to stop


Phil Parma:
It's not going to stop

Earl Partridge:
It's not going to stop
'Til you wise up


Linda Partridge:
Prepare a list for what you need
Before you sign away the deed
'Cause it's not going to stop


Frank T.J. Mackey:
It's not going to stop
It's not going to stop
'Til you wise up
No, it's not going to stop
'Til you wise up
No, it's not going to stop


Stanley Spector:
So just... give up

Zweimal greift P.T. Anderson auf einer Idee, der von Robert Altman gepflegt wird. Als der Kinderstar verspätet mit seinem Vater im Fernsehstudio ankommt folgt die Kamera den Personen und ohne Schnitt folgt die Kamera unvermittelt anderen Personen, um schließlich beim Quizmoderator zu enden. Ein ähnlicher Wechsel ist später auf dem Magnolia Boulevard zu erleben, als die Kamera von einem Auto in ein entgegenkommendes Auto springt und damit eine Verknüpfung zwischen zwei Handlungssträngen erzwingt.
Statt eines Gewitters kommt ein Regensturm, der über alle Orte der Handlung Frösche regnen läßt. Dieses Bild erinnert an 2. Moses 8, in der es als zweite von zehn Plagen Frösche regnen, um den Pharao von der Macht des neuen Gottes zu überzeugen. P.T. Anderson soll dies nicht als ein biblischen Motiv verwendet haben, sondern als ein Crescendo, das alle Beteiligten vor Angst erstarren lässt und eine Lösung der Konflikte erzwingt.

Der Film ist ein stilistischer Genuss!
Alle neun genannten Charaktere werden mit großer Intensität und extremen Gefühlen gespielt. Tom Cruise spielt einen widerlichen Typen so überzeugende, dass der Wunsch aufkommt, dass seine Szenen nicht so lang ausgespielt werden. Julianne Moore zeigt zweimal Hysterie, die eine Beschimpfung ihres Gegenübers münden und Melora Waters zeigt so viel Hoffnungslosigkeit, dass Mitleid entsteht. Hinzu kommt die exzellente Musik von Aimee Mann, die das Schlusswort hat mit ihrem Save Me, der Bitte um Erlösung.
If you could save me
From the ranks
Of the freaks
Who suspect
They could never love anyone

(Der Song Save Me findet sich als Video mit allen genannten Akteuren auf der CD Aimee Mann - Bachelor No. 2 or the last remains of the dodo)
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Nicht jeder mochte den Film. Die "professionelle" Kritik hatte viel auszusetzen. Ein Verriss und Wikipedia.

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